Die bisher angestellten Überlegungen zum Räuberdruck erlaubten eine pauschale Betrachtung der gesamten Chilopoden im Untersuchungsgebiet. Für ein genaues Verständnis des Zusammenlebens der Hundertfüßler wäre es aber sehr nützlich, differenziertere Informationen zur Mortalität zu haben - sowohl in Hinblick auf zeitliche und regionale Unterschiede als auch zur Beantwortung der Frage, ob die verschiedenen Arten dem gleichen Räuberdruck ausgesetzt sind. Direkte Beobachtungen und Freilandexperimente sind jedoch wegen der verborgenen Lebensweise der Chilopoden unmöglich oder zumindest wegen der vielen notwendigen Kontrollwiederholungen äußerst aufwendig.
Ich prüfte die Frage, ob sich im äußeren Erscheinungsbild der Lithobiiden Hinweise auf die Einwirkung von Fressfeinden finden, wie das. z. B. von CARPENTER (1937) oder SHAPIRO (1974) bei Schmetterlingen oder von SHAFFER (1978) bei Salamandern festgestellt wurde.
Es zeigte sich, dass viele Hundertfüßler mehr oder weniger vernarbte Verletzungen haben. Eine Reihe typischer Verletzungen ist in Tabelle 39 aufgeführt. Um nicht die Schäden mitzuzählien, die den Tieren beim Sammeln und Auslesen zugeführt wurden, berücksichtigte ich nur deutlich vernarbte Verletzungen. Diese unterscheiden sich von frischen Wunden durch die braun sklerotisierten Wundflächen. Im Labor gehaltene Tiere mit frischen Verletzungen erreichten dieses Aussehen erst nach mehr als 5 Tagen. Tiere aus der Kempson-Extraktion wurden bei der Narbenanalyse nicht berücksichtigt.
Die Art der Verletzungen gibt keinen Aufschluss darüber, ob das betreffende Tier in Auseinandersetzungen mit Artgenossen verwickelt war, oder ob es dem Angriff eines Räubers entkommen ist. Ein zufälliges Zustandekommen der Narben ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, so dass sich vielleicht allgemein feststellen lässt, dass die Narbenhäufigkeit eine "Interaktionsbelastung" anzeigt.
Von insgesamt knapp 3000 geprüften Lithobiiden fanden sich bei 34 % eine oder mehrere Narben. 66 % zeigten keine vernarbten Verletzungen. (Einstufung als "intakt".) Erwachsene Tiere sind dabei deutlich stärker vernarbt (51 % intakt) als die anamorphen und juvenilen epimorphen Entwicklungsstadien (72 % intakt). Dies hat zumindest teilweise seinen Grund in der langsameren Wachstuns- und Regenerationsgeschwindigkeit der ausgewachsenen Hundertfüßler.
Tabelle 40 gibt einen Eindruck von der Variabilität der Narbenhäufigkeit zwischen verschiedenen Proben. Nur einige der Unterschiede sind statistisch signifikant. Korrelationen zwischen der Häufigkeit potentieller Lithobiusfresser und der Narbenhäufigkeit konnte ich nicht finden.
Es besteht kein deutlicher Unterschied in der Narbenhäufigkeit zwischen Lithobiiden, die in der oberen und solchen, die in der unteren Streuschicht gefangen wurden (Tab. 40). Die Chilopoden fressenden Spinnen wurden jedoch fast ausschließlich aus der oberen Streuschicht ausgelesen (P in Abb. 11). Damit ist es wenig wahrscheinlich, dass der Räuberdruck durch Spinnen eine besondere Rolle bei der Entstehung der Narben an Lithobiiden spielt.
Im Frühjahr (März-April) scheint der Anteil intakter Tiere kleiner zu sein als im Sommer und Herbst. Für diesen Befund sind mehrere Erklärungen denkbar. Neben der Annahme verstärkten Räuberdrucks oder verstärkter Interferenz im Frühjahr und Winter ist es auch möglich, dass sich in der Narbenhäufigkeit die verlangsamte Wachstums- und damit auch Regenerationsgeschwindigkeit im Winter ausdrückt, während die evtl. narbenverursachende Aktivität der warmblütigen Tiere nicht entsprechend zurückgeht.
Etwas klarere Ergebnisse zeigen sich beim Vergleich der verschiedenen Lithobius-Arten in Bezug auf ihre Narbenhäufigkeit (Tab. 41). Die beiden dominanten Arten haben den größten Anteil intakter Tiere. Die Tabelle 41 legt einen positiven Zusammenhang zwischen dem Siedlungserfolg und dem Anteil intakter Tiere einer Art nahe. Als Ursache dafür könnte sowohl direkte Interferenz wie auch ein Mangel an geeigneten Schlupfwinkeln in Betracht kommen.
Narben als Indikatoren für Interferenz oder Räuberdruck
(1) Ungefähr die Hälfte der adulten und ein Viertel der juvenilen Lithobiiden haben vernarbte Verletzungen.
(2) Die Art der Narben deutet auf Interferenz (incl. Räuberdruck) als Verletzungsursache hin.
(3) Spinnen spielen wahrscheinlich keine besondere Rolle bei der Entstehung der Narben an Lithobiiden.
(4) Vernarbte Lithobiiden sind in der oberen Streuschicht ungefähr gleich häufig wie in der unteren Streuschicht.
(5) Im Frühjahr (März-April) scheint der Anteil vernarbter Lithobiiden höher zu sein als im Sommer und Herbst.
(6) Zwischen den häufigen Lithobius-Arten im Untersuchungsgebiet bestehen keine deutlichen Unterschiede in der Narbenhäufigkeit.
(7) Die nur in Einzeltieren gefundene Art Lithobius dentatus zeichnet sich durch besonders große Narbenhäufigkeit aus.
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