In diesem Abschnitt versuche ich, die im letzten Kapitel geschätzte Verlustrate der Lithobiiden in Beziehung zum Räuberdruck zu setzen.
Drei Räubergruppen kommen dabei besonders in Frage:
- Spinnen, Carabiden, Staphyliniden,
- Kleinsäuger, besonders Spitzmäuse,
- Andere Chilopoden der gleichen oder anderer Arten.
In den Laborversuchen zeigte sich, dass alle geprüften Carabidenarten Lithobiiden nicht als Beute annehmen. Anders dagegen der Staphylinide Quedius fuliginosus, der sehr schnell selbst ausgewachsene Lithobius mutabilis angreift und erlegt. Auch die beiden häufigen großen Spinnen der Laubstreu: Amaurobius fenestralis STROEM und Coelotes spec. (meistens: terrestris) sind sehr wohl in der Lage, Lithobiiden zu erbeuten. Jüngere Spinnenindividuen mit einer Körpergröße von 3 - 5 mm nehmen dabei Lithobiiden bis zu einer Körperlänge von 8 mm an, was ungefähr L. mutabilis PL1 entspricht. Die großen Spinnen können ohne weiteres auch Lithobiiden von mehr als 12 mm Körperlänge überwältigen.
Um sicher zu gehen, dass die Spinnen sich auch im Freiland von Lithobiiden ernähren, führte ich Präzipitintests zum immunologischen Nachweis von Lithobius-Proteinen in der Körperflüssigkeit der Spinnen durch.
10.1.2.1. Methoden
Das Prinzip dieses serologischen Tests auf Räuber-Beute-Beziehungen besteht darin, dass ein Tier (meistens ein Kaninchen) zur Bildung von Antikörpern gegen die Proteine der Beuteart stimuliert wird. Die nach dem Beuteverzehr im Verdauungstrakt des Räubers vorhandenen Beuteproteine reagieren nun mit dem Kaninchenserum in einer Antigen-Antikörperreaktion, die bei entsprechenden Bedingungen als Präzipitat sichtbar gemacht werden kann. Eine gute Übersicht der Anwendungsvarianten dieser Methode findet sich bei BOREHAM & OHIAGU (1978). Einen experimentellen Vergleich verschiedener Versuchstechniken (Immunodiffusion, verschiedene elektrophoretische Verfahren) führten MILLER et al. (1979) durch.
Antigen-Präparation
Das Verfahren der Antigen-Präparation ist angelehnt an DEMPSTER (1960): Lithobiiden verschiedener Altersklassen werden mit 0,5 ml physiologischer Kochsalzlösung in einem Mörser zerrieben. Das Homogenat wird mit 3,5 ml physiol. NaCl (0,9%ig) in ein Glasröhrchen gespült und 24 Stunden bei 4 °C stehen gelassen. Darauf erfolgte der Transport in das Virologische Institut Würzburg, wo die Lösung einem Kaninchen injiziert wurde.
Es wurden drei verschiedene Antigene hergestellt: 1979 eines mit Extrakten von Lithobius curtipes und eines mit solchen von L. mutabilis, 1980 eines aus einer Mischung von L. mutabilis, L. curtipes und L. macilentus mit einem großen Anteil junger anamorpher Stadien (siehe Tab. 33). Die endgültigen Tests wurden alle mit dem 1980er Serum durchgeführt.
Gewinnung des Antiseruns
Die weiteren Schritte bis zur Gewinnung des Antiseruns wurden freundlicherweise von Frau Dr. SCHIMPL, Virologisches Institut, übernommen. Ihr Vorgehen war in den Grundzügen folgendermaßen: Das Antigen-Homogenat wird zentrifugiert, der Überstand mit Kalium-Aluminat und Pertussis Organismen als Adjuvans versetzt und die resultierende Suspension einem Kaninchen injiziert. Die erste Blutentnahme erfolgt nach 2 Wochen. Darauf folgen 3 weiter Auffrischimpfungen (Boosts) im Abstand von jeweils einer Woche. Nach der Gerinnung des entnommenen Blutes wird zentrifugiert und das überstehende Serum abdekantiert.
Prüfung der Antiserum-Empfindlichkeit
Die Empfindlichkeit des gewonnenen Antiserums wurde mit dem (unten beschriebenen) Ouchterlony-Test bestimmt. Zwei Standard-Antigenlösungen - eine aus adulten und epimorphen L. mutabilis, eine aus L2-Larven - wurden in einer Verdünnungsreihe mit dem Antiserum zur Reaktion gebracht. Der Kehrwert der Verdünnung, bei der noch ein deutliches Präzipitat zu erkennen ist, ist der Titer des Antiserums. Trotz mehrfacher Auffrischimpfungen wurde nur ein vergleichsweise schwaches Äntiserum mit einem Titer von 10 erreicht. (Mit dem aus Larven gewonnenen Antigen ließ sich sogar nur eine Verdünnung von 1/4 erreichen). Bei ähnlichen Untersuchungen anderer Arten werden Antiserumtiter von 16 (DAVIES 1969) bis 16 000 (PICKAVANCE 1970, SERGEEVA 1975) angegeben.
Präparation der Räuber für den Test
Spinnen wurden entweder auf Filterpapier zerquetscht und über Phosphorpentoxid getrocknet (DEMPETER 1960) oder direkt bei -35 °c eingefroren, was auch zu einer Zellzerstörung und einem Freisetzen der Körpersäfte beim Auftauen führt (PICKAVANGE 197G, BOREHAM & OHIAGU 1978). Eingefrorene oder über Phosphorpentoxid aufbewahrte Räuberpräparate lassen sich länger als ein Jahr aufbewahren. Bei Staphyliniden wurde nur der Verdauungstrakt aus dem Tier herausgezogen und auf Filterpapier gedrückt,
Für den Test wurden die Präparate mit 0,1 ml (bei sehr großen Spinnen auch 0,2 ml) 0,9 % NaCl-Lösung versetzt und über Nacht bei 4 °O stehen gelassen.
Der Ouchterlony-Test
In diesem auch als Doppeldiffusionstest bezeichneten Verfahren diffundieren Antigen und Antikörper durch eine Agaroseschicht aufeinander zu. Im Bereich der Äquivalentkonzentration entsteht ein Präzipitat (OUCHTERLONY 1948). Als Trägerplatte für die Agaroseschicht dienen 5 x 5 cm² Dia-Deckgläser, die mit 4 ml einer 1%igen Agaroselösung in Tris-Puffer übergossen werden. Anstelle von Tris-Puffer läßt sich auch 0,9%ige Kochsalzlösung verwenden (PICKAVANCE 1970). Gegen Bakterienwuchs enthält die Lösung außerdem 0,1 % Natriumazid (NaN,). In die Agaroseschicht werden Löcher gestanzt, die als Aufnahmestellen für jeweils 10 Mikroliter Antigen und Antikörper dienen (siehe Abb. 31). Nach Testansatz werden die Platten für 3 Tage in wasserdampfgesättigter Atmosphäre bei Raumtemperatur inkubiert.
Kontrollen
In den Präzipitin-Tests fanden sich immer wieder nicht ganz eindeutige Reaktionen, so dass es nötig war, in Kontrollreaktionen abzuklären, ob es sich um echte spezifische Antigen-Antikörperreaktionen handelte. Zwei Kontrollen wurden durchgeführt:
(1) Vergleichsreaktion mit nicht immunisiertem Kaninchenserun ("Null-Serum"). Zeigt sich zwischen der zu testenden Flüssigkeit und dem Einfülloch des "Null-Serums" eine Bande, so kann dies nicht auf einer spezifischen Immunreaktion beruhen (Abb. 31 b).
(2) Vergleichsreaktion mit Standard-Lithobius-Antigen. Wenn zwei benachbarte Löcher das gleiche Antigen enthalten, verschmelzen ihre Präzipitationsbanden am Rand miteinander. (Abb. 31 a). Enthalten sie verschiedene Antigene, die mit dem Antiserum reagieren, so überschneiden sich die benachbarten Banden (Kreuzreaktion). Nur solche Präzipitate wurden als chilopodenspezifisch gewertet, bei denen ein Verschmelzen der Lithobius-Bande mit der des getesteten Räubers sichtbar war, also keine Kreuzreaktion stattfand.
10.1.2.2. Vorversuche und Ergebnisse
Tab. 34 zeigt das Ergebnis der Spezifitätsprüfung für das in den Tests verwandte Antiserum. Entsprechend den Erfahrungen anderer Untersucher (z. B. DAVIES 1969) beschränkt sich die Spezifität nicht nur auf eine Art, sondern umfasst im vorliegenden Fall die gesamte Ordnung der Chilopoda (Diplopoda wurden in den Versuchen nicht geprüft, sind aber im untersuchten Gebiet auch sehr selten.)
Weitere Vorversuche wurden gemacht, um festzustellen, wie lange ein verzehrter Chilopode in Darm einer Spinne nachweisbar bleibt (Tab. 35). Für die folgenden Berechnungen wird aufgrund dieser Versuche von einer 4-tägigen Nachweisbarkeit der Chilopoden im Spinnenkörper ausgegangen.
Das Ergebnis der Prüfung von 625 Spinnen aus dem Freiland ist der Tabelle 36 zu entnehmen. Es zeigt sich deutlich, dass die Spinnen Amaurobius fenestralis und Coelotes spec. im Freiland Chilopoden verzehren. Da Spinnen nur lebende Beute annehmen, müssen sie die Lithobiiden auch gefangen und überwältigt haben. Neben den Spinnen zeigte auch ein Quedius fuliginosus (Staphylinidae) (von 12 geprüften) eine eindeutig positive Reaktion mit dem Antiserum, womit auch für diese Art das Erbeuten von Chilopoden in der Natur nachgewiesen wäre.
Neben diesen qualitativen Aussagen lässt sich aus den Werten auch noch die Größe des Räubereinflusses der Spinnen (und anderer Raubarthropoden) grob abschätzen (DEMPSTER 1960). Die dafür notwendigen Parameter sind:
- die Größe der Räuberpopulation,
- die Dauer, während der ein gefressener Chilopode nachweisbar bleibt,
- der Anteil der Räuber mit positivem Fraßnachweis.
Außerdem wird angenommen, dass ein Räuber während der Zeit, in der eine Chilopodenmahlzeit nachweisbar bleibt, maximal einen Hundertfüßler frisst.
Die Anzahl gefressener Chilopoden lässt sich dann nach der Formel berechnen:
F = Anzahl gefressener Chilopoden pro m² während der betrachteten Zeitspanne T.
p = Anteil positiver Fraßnachweise an der Gesamtzahl getester Räuber.
A = Räuberdichte (pro m²
T = Betrachteter Zeitraum
t = Dauer, während der ein gefressener Chilopode nachweisbar bleibt.
Die so berechneten Chilopoden-Verlustzahlen pro m² (Tab. 36) reichen sehr nahe an die aus der Populationsdynamik ermittelte Mortalität heran. Bedenkt man, dass die kleinen anamorphen Stadien mit den Präzipitintests möglicherweise gar nicht nachweisbar waren, so taucht sogar die Frage auf, ob diese Tests nicht einen zu hohen Schätzwert für den Räuberdruck durch Spinnen ergeben.
Eine überhöhte Schätzung könnte auf folgenden 3 Faktoren beruhen:
(1) Die Chilopodenmortalität wurde zu gering angenommen.
Die Schätzungen des vorigen Abschnittes sind zwar nur grob, aber doch in sich weitgehend schlüssig. Sie lassen nicht die Vermutung zu, dass die Mortalität der Stadien L4 bis PL5 wesentlich unterschätzt sein könnte. Man könnte sich höchstens vorstellen, dass in Sonderhabitaten (Stamnmbasen etc.), die von den Quadratproben nicht erfasst wurden, eine höhere Mortalität herrscht, an deren Zustandekommen die gefangenen Spinnen beteiligt waren. Dieser Gedanke ist allerdings rein spekulativ.
(2) Die Räuberpopulation wurde zu groß angenommen.
Die Räuberdichte berechnete ich aus den Quadratproben. Diese Erfassungsmethode führt bei Spinnen eher zum Unter- als zum Überschätzen der Dichte (UETZ & UNZICKER 1976). Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass die Räuberpopulation zu groß angenommen wurde. Die Wohn- und Lebensweise der betrachteten Spinnen im Fallaub (und nicht als vagile Räuber auf der Laubschicht) macht einen größeren Verlust von Spinnen durch Flucht während des Probennehmens unwahrscheinlich.
(3) Die Nachweisdauer für eine Chilopodenmahlzeit ist länger als angenommen.
Ich führte die Versuche zur Nachweisbarkeit von Chilopoden in den Räubern bei Raumtemperaturen (15 - 21 °C) durch. Im und am Waldboden herrschen jedoch sicherlich niedrigere Temperaturen, die möglicherweise auch einen langsameren Stoffumsatz der Spinnen und Insekten bewirken. Eine um einen Tag längere Nachweisdauer (5 statt 4 Tage) würde bereits das Ergebnis der Chilopoden-Verlustrechnung um 21 % auf 44 Tiere/m² (anstatt 56 /m²) senken.
Der wahrscheinlichste Fehler ist somit die möglicherweise zu kurz geschätzte Nachweisbarkeit von gefressenen Chilopoden. Dennoch ändert sich auch bei längerer Nachweisbarkeit die Größenordnung des Ergebnisses nicht.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen:
Die Präzipitintests zeigen, dass der Räuberdruck durch große Bodenspinnen (Amaurobius fenestralis und Coelotes spec.) für einen bedeutenden Anteil der Chilopodenmortalität des Jahres 1980 verantwortlich zu machen ist.
Zu diesen Thema führte ich keine eigenen Untersuchungen durch, sondern beschränkte mich mit einer groben Abschätzung auf der Basis von Literaturdaten. Tab. 37 zeigt eine Zusammenstellung einiger für diesen Zweck wesentlicher Informationen. Wie mir Prof. Dr. J. NIETHAMMER brieflich mitteilte, ist im Buchenhochwald "allenfalls die Art Sorex araneus (bzw. S. coronatus) und S. minutus zu erwarten, und das nicht in hoher Dichte."
In Tabelle 38 sind einige aufgrund der Literaturdaten berechnete Schätzungen dargestellt. Die Populationsdichte von 247 Individuen pro Hektar (HAMILTON 1941) stellt eine extreme Ausnahme dar. Die maximale Dichte von Kleinsäugerpopulationen in der gemäßigten Zone wird von DELANY (1974) mit 40 Individuen pro Hektar angegeben. (Ausnahme: Microtus spp. mit bis zu 150 Ind/ha.) Kleinsäuger dürften damit keinen nennenswerten Einfluss auf die Chilopodenpopulationen im Buchenwald ausüben.
Bei der Analyse des Darminhalts der Lithobiiden zeigte sich, dass auch unter den Hundertfüßlern selbst Räuber-Beute-Beziehungen herrschen, denn in ca. 4 % der Därme fanden sich Reste von gefressenen Chilopoden.
Chilopodenreste entdeckte ich nur in adulten oder epimorphen Tieren. Von den insgesamt 9 Funden stammen 4 aus dem April, 2 aus dem Juni und jeweils einer von den Monaten Juli, August und Oktober. Auch die Verteilung auf die Arten ist nicht gleichmäßig. Während von 46 untersuchten L. (M.) curtipes 4 Tiere offensichtlich Lithobiiden gefressen hatten, waren es nur 2 von 121 untersuchten L. mutabilis. Lithobius-Fragmente fanden sich außerdem in 2 von 15 untersuchten L. macilentus und einem von 9 untersuchten L. dentatus.
Die Zeit des Auftretens dieser Funde wie auch das Aussehen der Fragmente im Darm legen den Schluss nahe, dass es sich bei den gefressenen Tieren hauptsächlich um junge anamorphe Larven der Stadien L0 bis L2 handelt.
Im Labor konnte ich beobachten, dass ausgewachsene L. mutabilis in einem Glasröhrchen mit Gipsboden ohne Refugium (30 mm Ø) Artgenossen bis zum Stadium PL1 fressen, während größere Tiere eher gegenseitige Nähe zu suchen scheinen. Artfremde Hundertfüßler werden jedoch auch dann angegriffen, wenn sie nur wenig kleiner als der Angreifer sind, und nach Überwältigen verzehrt.
Die vorhandenen Daten erlauben keine quantitativen Aussagen über die Bedeutung der Räuber-Beute-Beziehungen zwischen den Lithobiiden für die Regulation der Populationen. Es ist jedoch anzunehmen, dass bei einer Dichte von ca. 30 adulten Lithobiiden pro m² ein Anteil von 4 % Lithobius-Fressern einen nicht nur marginalen Beitrag zur Larvalmortalität leistet.
Es ist denkbar, dass dabei die interspezifische Predation von L. (M.) curtipes an Larven von L. mutabilis gegenüber dem einfachen Kannibalismus überwiegt. Dieser Gedanke bedarf aber der Stützung durch zuverlässigere Daten.
Räuberdruck als Mortalitätsursache
(1) Spinnen der Gattungen Amaurobius und Coelotes sind für einen Großteil der Chilopodenmortalität im Untersuchungsgebiet verantwortlich.
(2) Der Räubereinfluss von Kleinsäugern (v. a. Spitzmäusen) kann nur für einen Bruchteil (unter 10 %) der Chilopodenmortalität die Ursache sein,
(3) Kannibalismus und/oder interspezifische Lithobius-Predation spielt eine Rolle als Mortalitätsfaktor für die anamorphen Lithobiiden.
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