Hundertfüßer (Chilopoda) haben mir zu meinem Doktortitel verholfen. Eigentlich hatte ich mal wieder ein viel höheres Ziel: Ich wollte erforschen, ob räuberische Tiere zur Artenvielfalt auf der Ebene ihrer Beuteorganismen beitragen. Im Endeffekt wurde meine Doktorarbeit aber doch nur eine Bestandsaufnahme der Hundertfüßer im Wald bei Fabrikschleichach mit Seitenblicken, welche Rolle Fressfeinde für Hundertfüßer spielen und wie sich die verschiedenen Hundertüßerarten in ihren Raum- und Nahrungsansprüchen unterscheiden. Ich versuchte auch, den genauen Aufenthaltsort der Tiere im Boden herauszufinden, indem ich eine abgegrenzte Fläche mit flüssigem Stickstoff schockfrostete, Streu und Boden anschließend ausstach und in Gelatine einbettete. Das Präparat musste noch in Formalin gehärtet werden. Dann konnte man Scheiben abschneiden und unter dem Präpariermikroskop durchmustern. Eingenebelt in Formaldehyddämpfe musste ich feststellen, dass man fast nie einen Hundertfüßer sieht - sie sind für die Methode nicht häufig genug.
Trotzdem kam schließlich in einer Kombination von Zeitreihen, serologischen Tests, Darminhaltsuntersuchungen, Modellrechnungen und kleinen Laborbeobachtungen doch genug heraus, um die Arbeit abzuschließen. Hier ist sie in html aufbereitet. Nur ein Teil der Ergebnisse wurde in Pedobiologia veröffentlicht.
Mir war beim Betrachten der vielen Hundertfüßer aufgefallen, dass immer wieder vernarbte Verletzungen vorkamen: ein fehlendes Bein oder Narben, die wie Bissverletzungen aussahen. Ich gewöhnte mir an, das bei jedem betrachteten Tier systematisch zu protokollieren. Die Vernarbung erwies sich als ein Anzeiger für das Ausmaß der Störungen (durch Feinde?), denen die Hundertüßer ausgesetzt sind. Bei einem Welt-Treffen der Tausendfüßerkundler in Innsbruck präsentierte ich ein Poster. Dort traf sich eine sympathische Gruppe von knapp 100 Leuten, die sich mit einem Schmunzeln ihrer Skurrilität bewusst war. Schade, dass niemand außer mir das Thema weiter verfolgt hat.
Zehn Jahre lang hat der Bodenzoologe Ludwig Beck mit seiner Arbeitsgruppe am Staatlichen Naturkundemuseum in Karlsruhe jeden Monat Bodentiere aus der Laubstreu eines Buchenwaldes ausgelesen. Mir fiel auf, dass unter den vielen aus diesem Fundus untersuchten Tiergruppen die Hundertfüßer fehlten. Herr Beck war so nett, sie mir auszuleihen. So entstand in Feierabendarbeit eine meiner besseren Veröffentlichungen (an wenig beachteter Stelle). Wer hat schon das Glück, eine so lange und sorgfältig erhobene Zeitreihe studieren zu dürfen? Natürlich wurde auch die Narbenhäufigkeit betrachtet.
Birgit Balkenhol untersuchte in ihrer Doktorarbeit an der Uni Osnabrück Spinnen, Laufkäfer und Beintastler (Proturen) in Wald-Lebensrauminseln. Ich durfte die Hundertfüßer in dem sorgfältig sortierten Beifang ihrer Bodenfallen und Bodenproben untersuchen. Das führte zu meinem ersten Vortrag auf einer internationalen Tagung - dem Welt-Treffen der Tausendfüßerkundler in Kopenhagen. Auch hier brachten die Narben der Tiere interessante Aufschlüsse.
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